Beethoven und die Wale
Seit einer Woche ging ich jeden Tag in diese Kneipe. Sie lag einfach meinem Aufenthaltsort am Nächsten. Es hätte auch irgendeine Andere sein können. Sie öffnete um siebzehn Uhr und kurz darauf betrat ich das Lokal, setzte mich an den Tresen und bestellte mein erstes Bier, blieb dann ein paar Stunden und ging danach schlafen.
Nach ein paar Tagen war es fast wie ein Ritual, ich setzte mich an den Eckplatz der kurzen Seite des Tresens bestellte mein Bier bei Gabi und so nach zwei Getränken kamen nach und nach die weiteren Gäste. Meist waren es immer die selben Personen, so wie ich schienen es alle Flüchtlinge zu sein, Flüchtlinge aus unterschiedlichen Gründen. Sie ließen sich ebenfalls am Tresen nieder. Jeder schien so etwas wie seinen Stammplatz an dem Schanktisch zu haben, vier Meter an der Langen und drei an der kurzen Seite. Gegen Acht waren fast alle Barhocker besetzt. Gabi, eine nette Mittvierzigerin, kannte fast alle mit Namen und wusste welche Getränke sie wortlos ihren Gästen servieren konnte. Ansonsten waren keine weiteren Gäste in dem kleinen Raum, die wenigen Tische meist unbesetzt und auch der Spielautomat auf dem Weg zu den Toiletten blinkte alleine vor sich hin.
Nach einer Woche war ich kein Fremdkörper mehr in dieser Runde. Nicht, dass man sich großartig unterhielt, ein wenig Politik und ein paar Beschwerden über steigende Preise, das Übliche eben, es schien wie ein unausgesprochenes Gesetz zu sein, niemanden zu sehr in sein Privatleben einzudringen. Deswegen war man ja schließlich auch hier, die Flucht vor Diesem. Das Besondere war, dass die sprachlosen Lücken mit leiser klassischer Musik gefüllt wurden, kein Pop, kein Schlager, so bekam es etwas Niveau und es unterstrich die Zurückgezogenheit der Gäste.
Gabi, sie drängte sich keinem mit überzogener Heiterkeit auf, schien diese Atmosphäre zu schätzen, bewegte sich zielsicher hinter ihrem Tresen und schien selber ein Geheimnis zu bewahren. Aufmerksam für jede Nuance, aufmerksam jedem rechtzeitig das nächste Getränk hinzustellen. Herrscherin ihres kleinen Karrees, keiner wagte sie schräg anzusprechen.
Ich war gerade mit meinem dritten Bier beschäftigt, leise plätscherte das Allegro von Bachs Brandenburger Konzert, als ich folgendes beobachtete. Eine Fliege hatte sich herein gestohlen und hielt sich im Thekenbereich auf, setzte sich abwechselnd auf den Ein oder Anderen. Eine von diesen fetten, brummenden Viechern, selten zur Ruhe kommend, ziemlich nervend. Als sie vor mir auf dem Tresen verweilte, hob ich meine Hand und senke sie in Zeitlupe. Man muss wissen, dass Fliegen mit ihren Facettenaugen in der Lage sind schnelle Bewegungen wie in Zeitlupe zu sehen, langsame Bewegung kann sie überlisten. Kurz über ihr schlug ich dann zu. Das war es für sie gewesen. Alle blickten mich an.
“Es hätte die Reinkarnation meiner verstorbenen Frau sein können,” hob ich an “und sollte ich das Schicksal haben, sie in eine weitere Lebensstufe zu heben, so nehme ich das gerne an. Es ist schließlich ein weiter Weg das Nirwana zu erreichen.”
Einige verwunderte Augenpaare blickten mich an.
“Ihr kennt doch sicher die Weltanschauung der Buddhisten, nach dem Tod folgt die Wiedergeburt in ein höheres aber auch tieferes Wesen, je nachdem wie einer gelebt hat. Unsere Seelen sterben nie, sie gehen nur in eine andere Lebensform über.”
Der Mann neben mir sah so aus, als ob er seiner Frau auch schon mal zu einer neuen Inkarnation verhelfen wollte.
“Die Arroganz des Menschen besteht nur darin,” fuhr ich fort, “zu glauben, dass wir die höchste Lebensform sind, von der man dann, bei tadelloser Lebensführung, in das Nirwana eintreten kann. Vielleicht weil wir Hände haben und zu handwerklicher Geschicklichkeit bis hin zur künstlerischer Entfaltung fähig sind. Die Auseinandersetzung mit philosophischen Fragen ist es gewiss auch, die wir keiner anderen Spezies zutrauen, ein weiteres Merkmal dieser Arroganz. Und nicht zu vergessen natürlich die Musik, eine unserer grandiosesten kulturellen Errungenschaften. Sind wir in diesem Gebiet wirklich die alleinigen Herrscher? Ich glaube nicht.”
Mehrere ungläubige Augenpaare blickten mich an, aber niemand sagte ein Wort.
“Ich könnte euch eine Geschichte erzählen, die unglaubwürdig scheint, habe sie aber selber erlebt.”
Weiterhin keine Reaktion nur gespanntes Schauen. Gabi stellte mir unaufgefordert ein weiteres Bier hin und ich nahm das als Anlass weiterzusprechen.
“Vor nicht allzu langer Zeit war ich auf den Kanaren gewesen, genauer gesagt auf der Insel Gomera. Ich wollte einmal in meinem Leben leibhaftige Wale sehen und diese Inseln sind ein guter Platz dafür. Am zweiten Tag hatte ich gleich eine Fahrt bei einem Deutschen gebucht. Er hieß Bernd, betrieb schon seit Jahren mit seinen Motorboot Whalewatching, wie man heute sagt. Mit mir fuhren weitere fünf Touristen am frühen Morgen hinaus. Hinter uns verschwand der idyllische Hafen von San Sebastian im Morgennebel.
Wir fuhren einige Meilen auf die hohe See. Der Skipper gab uns einige Verhaltensregeln, falls wir auf Wale treffen sollten, was nicht unbedingt immer der Fall ist, aber hier im Bereich des südlich abschwenkenden Golfstromes stehen die Chancen ziemlich gut und auch die Vielfalt der anzutreffenden Tiere ist sehr hoch.
Die Spannung stieg, zu sehen war aber nichts. Die Wellen rau und einer der Gäste musste sich übergeben.
“Haltet euch gut fest, wenn hier einer über Bord geht, kann er schnell mal hinter dem nächsten Wellenkamm verschwinden und ihn dann wieder zu finden ist nicht leicht.”
Nach einer weiteren halben Stunde kreuzen, entdeckte Bernd einige Delphine, die dann verspielt das Boot begleiteten. Welch eine Freude diesen Tieren zu zuschauen und dann tauchte plötzlich eine großer Schatten rechts neben dem Boot auf. Wir hielten den Atem an. Bernd rief: ”Ein Buckelwal, ein riesiges Tier. Was für ein Glück.” Mit bestimmt imposanten fünfzehn Metern tauchte der Wal auf, beobachtete uns kurz und ließ sich dann wieder sinken. Der leichte Schwung mit der Rückenflosse brachte das Boot etwas ins Schlingern. Noch mehr Schatten waren zu sehen. Wir waren auf eine Schule gestoßen. Ich hörte wie Bernd noch sagte, Buckelwale gehören zu den Bartenwalen, als eines der Tiere aus dem Wasser sprang, jauchzen, Kameras klickten und mit einer gewaltigen Gischt landete das Tier wieder im Wasser. Die Welle traf das Boot seitlich, ich stolperte nach hinten und fiel über die Reling.
Blaugrünlich verschwommenes Licht, über mir der Schatten des Bootes und neben mir ein noch größerer Schatten, der Wal. Er gleitete langsam näher, eine leichte Berührung und dann der Blick in sein Auge. Dies sollte ein minderwertiges Lebewesen sein. Wer weiss denn schon, ob Wale nicht auch philosophieren, welche Geschichten sie sich untereinander erzählen und ihre Walgesänge, ist das nicht auch Musik. Von der Größe her und der Eigenschaft lange unter Wasser tauchen zu können abgesehen, fühlte ich mich einem gleichartigem Wesen gegenüber. Immer mehr Wale schwammen auf mich zu, neugierig fast liebevoll. In meinem Kopf entstand Musik, ich sang oder dachte ich nur, aber es war Ton für Ton Beethovens Mondscheinsonate. Stundenlang hatte ich sie in meiner Trauerzeit gehört, ich konnte sie auswendig. Die Wale trieben um mich wie ein Gruppe sinnlicher Zuhörer. Das traurig anmutende Adagio schienen sie zu fühlen. Ich glaube eine Träne trat aus meinen Augen.
Wie lange war ich schon unter Wasser, es kam mir vor wie Stunden, waren es doch nur Minuten. Ich hatte keine Luft mehr, musste an die Oberfläche, mir wurde bereits schummerig vor Augen, dann schwarz.
Am nächsten Morgen entdeckte man mich auf dem dunklen Sandstrand der Insel. Sie hatten mich bereits abgeschrieben, so viele Meilen vor dem Ufer, ein Wunder. Nicht für mich, meine neuen Freunde hatten sich gewiss sorgsam um mich gekümmert, mich an diesem Ufer abgesetzt und waren jetzt wieder unterwegs in den Weiten der Meere. Das waren keine bloßen Tiere mehr für mich, es waren Lebewesen auf gleichem Niveau.
Ich schaute meine Zuhörer an. Einige schienen mich zu belächeln, andere dachten wahrscheinlich, ich sollte besser einen Therapeuten aufsuchen, aber gesagt hat keiner etwas, nur Gabi war beeindruckt. Auf die Frage, ob ich noch ein Bier wolle, verneinte ich und erblickte in diesem Moment eine vertraute Person im Halbschatten des Ladens. Sie winkte mir mit seinen Flossen zu, ich stand auf, bezahlte meine Getränke mit einem großzügigen Trinkgeld und verliess das Lokal. Wir gingen wortlos Richtung Hafen. Es war dunkel, die Lichter einer fernen Barkasse tanzten über die Wellen, kräuselten sich und brachen sich am Kai. Ich legte meinen Mantel auf den Poller und sprang ins Wasser. Zuerst hörte ich noch das sich entfernende Geräusch einer arbeitenden Schiffsschraube, dann aber setzten sich wunderbare Klänge durch – Musik, zunächst spärlich dann aus hunderten von Stimmen. Ein Orchester aus Walstimmen und sie intonierten die Mondscheinsonate.