Ist Demenz ansteckend?


Ist Demenz ansteckend?

Stehe vor meinem Kühlschrank und weiß nicht mehr, was ich wollte. In Ordnung, oder auch nicht. Verlasse erst mal die Küche, um einen neuen Anlauf zu machen. Dann wird es mir schon wieder einfallen. Bleibe vor dem Fenster stehen. Es regnet. Betrachte die Tropfen, die sich am Fenster sammeln, sich zu größeren Tropfen vereinigen, dann an der Scheibe runterlaufen, unterwegs noch mehr Tropfen einsammeln, auf das Fensterbrett fließen und unweigerlich aus meinem Blickwinkel verschwinden. Physik im vollendeten Ablauf. Nach einer Weile frage ich mich, warum ich zum Fenster gegangen bin. Bekomme Durst, also gehe ich in die Küche. Stehe vor meinem Kühlschrank. Plötzlich überkommt mich die Erinnerung eben schon einmal hier gestanden zu haben. Jetzt mache ich mir doch ein wenig Sorgen um meinem Geisteszustand. Ist das eine beginnende Demenz?
Demenz, ein Krankheitsbild, in aller Munde, welches wie ein Damoklesschwert über unserer immer älter werdenden Gesellschaft hängt. Und nicht nur da, sondern auch über mir. Früher war es viel einfacher – Opa oder Oma war halt etwas tüdelig – heute gibt es diese vernichtende Diagnose ohne Wiederkehr. Sinke erst mal auf dem Küchenstuhl zusammen.
Nun ist es so, ich bin ziemlich gut informiert, was dieses Volksleiden angeht. Aus erster Hand sozusagen. Meine Freundin arbeitet nämlich im Altenheim, und zwar speziell für die siebenundachtzig B Bewohner. So heißt dieser Paragraf für dieses Klientel, der dann dazu führt, extra Geld der Krankenkasse auszuschütteten, wegen nicht mehr leistbarer Alltagskompetenz. Natürlich nur auf Antrag. So erfahre ich dann Sachen, die ich eigentlich gar nicht wissen dürfte, über Frau Habenicht oder Herrn Müller zum Beispiel. Ich kenne die nicht wirklich, aber mittlerweile irgendwie doch schon.
Ich glaube nicht, dass das noch lustig ist, wenn Herr Müller zum zehntenmal hintereinander, innerhalb von zehn Minuten, fragt – Was ist heut für ein Tag, und welcher Monat, und welches Jahr haben wir. Die Ruhe möchte ich haben, um da nicht aufbrausend zu werden.
Oder Frau Habenicht, auch die Läuferin genannt, ständig im Heim unterwegs, vergisst sie schon mal wo das Klo ist, oder was man da überhaupt macht. So stellen ihre Hinterlassenschaften in den Gängen das Pflegepersonal verstärkt auf die Probe.
Vergessen, das ist das Problem. Ist unser Körper mittlerweile auch für immer mehr Lebensjahre fit gemacht, spielt doch das Gedächtnis nicht unbedingt mit. Zuerst fängt es ja ganz schleichend an. Mal den Herd nicht ausgeschaltet, die Suppe ungewürzt, oder den Namen des Nachbarn gerade nicht parat. Kennen wir doch alle.
Ist das schon der Anfang?
Harmlos schleichend kommt sie daher. Und schwupps, hast du nicht aufgepasst, erkennst du deinen Partner nicht wieder. Manch ein Lästermaul mag hier einfügen – kann ja auch von Vorteil sein. Sechs Tage hintereinander Rindfleischsuppe, wird ohne Beschwerde funktionieren, das Kurzzeitgedächtnis hat es ja eh nach zehn Minuten schon vergessen. Mag praktisch und eventuell auch mal erheiternd sein, aber was ist, wenn du keine Ahnung mehr hast, was mit der Rindfleischsuppe anzufangen ist. Dann kommen wieder Situationen, in denen die Geduld der Pflegenden auf die Probe gestellt wird.
Habe gerade Neues von Frau Hirsch erfahren. Also dieses Heim, in dem meine Freundin arbeitet ist der reinste Hort von abstrusen Begebenheiten. Vieleicht sollte ich mal eine Geschichte davon schreiben.
Also diese Frau Hirsch hat ja seit kurzem eine neue Macke. Sammelt sie doch alles ein, was ihr unter die Finger kommt. Heimlich natürlich. Besteck, Essensreste, Servietten, all so ein Zeug halt. Wobei sie die Servietten gleich doppelt einsetzt, erstens um die, sagen wir hier mal Wurstscheiben, mit derselben verdeckt vom Tisch angelt, in jene einwickelt, auf ihrem Rollator abbunkert, um sie dann später im Zimmer zu verstecken. Für Notfälle wohl. Alte Kriegsgenerationsschule. Leider vergisst sie dann die Verstecke. Das Pflegepersonal hat dann eine weitere Herrausforderung. Immer der Nase nach wird es bald fündig, und fördert zwischen Unterwäsche oder hinter Sofakissen angeschimmelte Lebensmittel hervor.
Die haben es auch echt nicht leicht.
Erstaunlich, dass so viele diesen Job ausüben mögen. Bald werden wir aber noch mehr Personal gebrauchen. Schätzungen zufolge wird sich die Zahl der an Demenz erkrankten von heute ca. 1,3 Millionen  bis zum Jahre 2050 verdoppeln. Was das alles kosten wird. Da reichen die bis jetzt gehorteten Milliarden garantiert nicht lange. Das haben die Krankenkassen nun davon, trimmen uns auf eine gesunde Lebensweise, damit unser Körper länger durchhält, um dann in einer planlosen Gesellschaft zu enden. Wahrscheinlich werden sie sich später gar nicht mehr daran erinnern können.
Meine Freundin sagt allerdings, dass sie ihre Arbeit gerne macht. Sie und ihre Kolleginnen mutmaßen aber bereits seit einiger Zeit, dass sie sich ihren Klienten angleichen, was Vergesslichkeiten angeht. Liegt das an dem Umgang mit diesen Menschen, könnte das ansteckend sein. Und was hat das dann für Konsequenzen im zweiten Grade für mich?
Schaue bei Wikipedia rein. Risikofaktoren.
Hauptrisikofaktor für eine Demenz ist das hohe Lebensalter. Das Überwiegen des weiblichen Geschlechts unter den Betroffenen ist wahrscheinlich vor allem in der um einige Jahre höheren Lebenserwartung von Frauen begründet.
Entspanne mich ein bißchen.
Depressionen werden als Risikofaktor für die Entwicklung einer Demenz angesehen. Sie treten vor allem in frühen Demenzstadien gehäuft auf und können einer Demenz auch vorausgehen.
Weitere Risikofaktoren sind darüber hinaus kardiovaskuläre Faktoren, wie Hypertonie, hoher Homocysteinspiegel, Niereninsuffizienz, Adipositas und Diabetes mellitus. Eine Rolle spielen hierbei Defekte des Gefäßsystems, der beeinträchtigte Insulin-Metabolismus und Signalweg und ein Defekt im Glukosetransportmechanismus im Gehirn.
Sollte ich meinen Arzt konsultieren?
Da auch das Tabakrauchen einen möglichen Risikofaktor für Demenzerkrankungen darstellt, trägt das Einstellen des Zigarettenkonsums ebenfalls zur Demenzprävention bei.
Aber Raucher sterben doch früher, mit Chance vor Einsetzen einer Demenz.
Eine im Jahr 2012 veröffentlichte Langzeitstudie weist auf einen Zusammenhang zwischen der Zahngesundheit und dem Demenzrisiko hin. Demnach ist das Risiko an Demenz zu erkranken um das 1,85-fache höher, wenn 13 oder mehr Zähne fehlen und die Lücken nicht mit festem Zahnersatz versorgt sind. Forschungsgegenstand waren 4425 japanische Einwohner, die etwa 65 Jahre alt waren und über 4 Jahre begleitet wurden. 220 von ihnen erkrankten an Demenz.
Wann war ich eigentlich das letzte Mal beim Zahnarzt?
Soweit wie ich das bis jetzt überschauen kann, ist ein Austausch von Körperflüssigkeiten mit ihr kein Problem. Sollte die Sache doch eher in der Verhaltensforschung überprüft werden. Wenn mehrere Ihrer Mitarbeiterinnen gleiche Vermutungen hegen, sollte da nicht eine Befragung auch in anderen Heimen stattfinden? Da liegt doch die Vermutung nahe, ein steter Umgang mit Dementen färbt ab. Wie sieht denn es aus mit daheim Pflegenden?
Schaue noch mal bei Wikipedia.
Zu 90 Prozent werden Demenzkranke von Angehörigen gepflegt, zu 80 % von Frauen. Ein weithin unterschätztes Problem ist der Umgang der Angehörigen mit sich selbst. Oft vernachlässigen sie zunehmend ihre eigenen Sozialkontakte und leben nur noch für den Dementen, mit dem sie kaum kommunizieren können. Oft sind sie voller Schuldgefühle wegen der immer wieder aufkommenden Aggressionen gegenüber dem Betroffenen. Und schließlich haben sie selbst große Angst, auch in absehbarer Zeit an einer ähnlichen Erkrankung zu leiden. Das alles mündet in sehr vielen Fällen in eine relevante Depression.
Depression, das hatte ich doch gelesen, kann Demenz auslösen. Hört sich an wie eine unaufhörlich steigende Spirale.
Also, wenn sie heute nach Hause kommt, werde ich erst mal einen Witz erzählen. Hoffentlich fällt mir bis dahin einer ein.
Habe jetzt aber Durst. Gehe zum Kühlschrank.