Telefonzelle
Hat Gott eine Telefonnummer? Wenn ja, in welchem Telefonbuch könnte ich sie finden? Ich hatte nie gedacht mir solche Fragen einmal ernsthaft zu stellen. Nie gedacht in solch einer prekären Situation zu stecken. Wäre ich doch bloß nicht mit an die See gefahren.
Vor fünf Tagen war ich mit meinem Freund Wolfgang auf diesem Campingplatz angekommen. Er wollte nur einen Wochenendabstecher machen und überredete mich ihn zu begleiten. Er war der Inselprofi hier, kam regelmäßig nach Fehmarn, ich zum ersten Mal. Schnell waren meine Sachen gepackt, das kleine Zelt, ein paar Kleidungsstücke, Proviant und eine Palette Dosenbier. Genug für ein Wochenende. Doch dann hatte ich entschieden länger zu bleiben. Wolfgang würde mich in vierzehn Tagen wieder abholen.
Wir befanden uns in der angehenden Nachsaison, die Luft war noch warm und die leichte Brise lau. Der Platz hatte sich gelichtet, die Ferienzeit war vorbei, kein Trubel und ein weiter Strand ohne ölige Leiber. Hier bot sich in der fremden Umgebung Ablenkung durch lange Spaziergänge über steinige Strandpartien oder die nahe Waldsituation. Die Bewegung tat gut, der Wind blies einen Teil der dunklen Gedanken fort. Gedanken, die sich seit Wochen nur um ein Thema drehten, Elkes Tod. Jeder Antrieb war mir seit dem genommen. Jetzt war ich Wolfgang dankbar, dass er mich aus meiner gewohnten Umgebung gerissen hatte. Ich konnte das erste Mal frei durchatmen, spürte meinen Körper den der Wind umschmeichelte. Der weite Blick und das beruhigende Geräusch der immer wiederkehrenden seichten Wellen waren Balsam für meine Seele. Stundenlang durchstreifte ich die Küste, betrachtete glattgeschliffene Steine, ließ sie durch meine Hände gleiten, um sie ein paar Meter weiter durch neue Varianten auszutauschen. Kletterte über umgestürzte Bäume, die das Meer der Steilküste entrissen hatte. Eine gewisse Wildnis in der der Einfluss der Menschen, nicht zu spüren war, abgesehen von dem Unrat, angeschwemmt oder bei Spaziergängen liegen gelassen, war die Zivilisation auch hier schon durchgekommen.
Am sechsten Tag, ich war mit leichtem Proviant Richtung Südstrand unterwegs, beschloss ich am späten Nachmittag in einer günstig gelegenen Bucht mir ein kleines Lagerfeuer anzuzünden. Ich sammelte trockenes Holz, welches ich in einer kleinen Mulde entflammte, warf ein paar Kartoffeln an den Glutrand und öffnete mir ein Bier. Feuer hatte schon immer etwas phantastisches für mich gehabt, besser als Kino, mit knisterndem Wohlfühlgeräusch, angenehmer Wärme und irgendwie archaisch. Dies war mein erstes Lagerfeuer ohne Elke, mit ihr hatte ich viele entzündet, stundenlang damit zugebracht und uns über Gott und die Welt unterhalten. Ich vermisste die angeregten Gespräche, in Gedanken redete ich immer noch mit ihr. Sie war jetzt schließlich mein Schutzengel und auch ihre Jacke, die ich immer anzog, gab mir das Gefühl sie um mich zu haben. Leider war ihr Geruch mittlerweile entschwunden.
Ja, sie passte auf mich auf und hatte viel zu tun in den ersten Wochen in denen ich häufig angetrunken mit glühenden Zigaretten einnickte. Zahlreiche Brandlöcher in Kleidung, Teppich und Bettwäsche erinnern mich daran. Immer wenn ich aufwachte und das Dilemma sah, blickte ich voller Dankbarkeit zu der kleinen, von ihr in Kindertagen gebastelten Schutzengelfigur, die jetzt bei mir zu Hause im Fensterkreuz hing.
Der aufkommende Wind ließ mich erst wieder aus meinen Gedanken auftauchen. Das Feuer zappelte unruhig auf. Der Blick in den Himmel, ließ eine Wetteränderung vermuten. Von hinten die Abendsonne, noch hier und da durch das Gewirr der Bäume zu erkennen, bot sie an den Rändern der nahenden dunklen Wolkenfront von vorn, ein Schauspiel mit goldenen glänzenden Rändern. Imposantes auftürmen, ständige Veränderung. Höchste Zeit zum Aufbruch. Ich steckte die brennenden Stockspitzen in den Sand und machte mich auf den Rückweg. Ich hatte noch eine weite Strecke vor mir und hoffte nicht nass zu werden. Welch ein Irrtum. Gerade mal zwanzig Minuten unterwegs, ich passierte gerade eine grobsteinige Passage an der Küste, ging es los. Der Wind peitschte mir dicke Tropfen ins Gesicht. Ich hielt mein Basecap mit der einen Hand fest und eierte über die Felsen. Schutz war nirgendwo in Sicht. Auf der einen Seite die Steilküste auf der Anderen die aufgewühlte See. Meine Kleidung war binnen weniger Minuten durchnässt. Wollte ich ein Abenteuer, hier hatte ich es. Kampf gegen die Naturgewalten auf unwegsamen Gelände. Ich musste mich sehr konzentrieren, nicht auszurutschen und auf die Steine zu fallen. Es gab nur noch vorwärts und durch.
So schnell, wie der Regen kam, so zügig zog die Wolkenfront über mich hinweg. Das kurze Inferno war vorbei. Da stand ich nun, nasse Sachen am Leib, aufkommende Kühle, ich atmete erst Mal tief durch, freute mich einen Rest der Abendsonne zu erblicken. Nichts wie weiter, in Bewegung bleiben und vorm dunkel werden beim Zelt sein. In Gedanken sah ich mich schon unter der heißen Dusche, trockenen Sachen, eine kleine Pizza bei Toni essen und mindestens zwei, drei Bier trinken.
So hatte ich es dann auch gehalten, aus dem Bier waren ein paar mehr geworden und ich schlief, in dem Glauben morgen würde mich ein weiterer schöner Tag erwarten, erschöpft ein. Ich weiß nicht mehr wann ich aufwachte, keine Uhr, kein Handy, aber das Prasseln von starken Regenfall ließ mich nicht weiterschlafen. War es noch mitten in der Nacht oder der Morgen nicht mehr hell geworden. Wer einmal bei Regen unter einer Plane gesessen hat, weiß welch eine Geräuschkulisse auf mein kleines Zelt niederging. Zweifelsohne hat es auch eine gewisse Gemütlichkeit, aber bei starkem Harndrang und dem Bewusstsein demnächst einen Gang Richtung Klo zu wagen, verliert es schnell an Annehmlichkeit. Ich entschied mich dafür einfach in der Hocke hinter dem Zelt mich zu erleichtern. Bürstners, die bis gestern noch mit ihrem Wohnmobil neben mir standen waren schon abgereist, also einfach raus, es würde schon keiner sehen. Ich schlief wie immer nackt, brauchte nur die Regenjacke über die Schultern hängen den Reissverschluss öffnen und schnell herauszuschlüpfen. Die Überraschung kam beim ersten Schritt, ich stand knöcheltief im Wasser. Damit hatte ich nicht gerechnet. Das Zelt stand in keiner Mulde, wo kam das ganze Wasser her. Nachdem ich fertig war ging ich ins Zelt zurück, rauchend bis zum Morgen abwartend, was der Tag ans Licht bringen würde.
Ich musste wohl doch noch mal eingeschlafen sein, leicht wasserbettartiges Geschunkel, Träume von hoher See.
Der Morgen brachte keine wesentliche Besserung. Wasser vor dem Zelt, zum Glück nur ein leichter Nieselregen, die Himmelsstimmung grau in grau. Einzig Gummistiefel beschützte Urlauberfüße beim Versuch die nötigsten Dinge zu regeln, boten einige bunte Tupfer Abwechslung. Die Wassersäule meines Zeltes lag zum Glück oberhalb des Pegels und ich konnte mich aufmachen, schauen, einen Kaffee aufzutreiben. Hose aufgekrempelt, Plastiksandalen, wie halb Südostasien sie trägt, an den Füßen, stakte ich durch das Wasser Richtung Anmeldung.
Dort herrschte geschäftiges Treiben, man versuchte eine Abflussrinne für das Wasser zu schaffen, es sollte Richtung Meer runterlaufen können, verstopfte aber ständig durch angeschwemmte Campingutensilien. Unter ihnen war auch der Betreiber des Platzes, ein Mann mit nettem Gesicht, blond gelockten Haaren, wie es sich für einen Norddeutschen gehörte, und leicht verschmitzten, diebischen Augen, wohl das genetische Erbe von Strandpiraten. Er hatte immerhin einen mitleidsvollen Blick für mich übrig, ich war wohl noch der Einzige mit einem kleinen Zelt hier auf dem Platz. Die Übrigen, anscheinend gestandene Jahrescamper, die sich heute morgen ihren Kaffee wahrscheinlich im trockenen Wohnwagen aufbrühten, gut ausgerüstet mit Gummistiefeln und Friesennerz, schufteten und rackerten. Die Arbeit wurde immer hektischer und ein Blick an den Himmel, offenbarte mir warum. Eine unvorstellbare schwarze Wand zog heran, der Wind frischte auf – das sah nicht gut aus. Meinen Kaffee konnte ich erst Mal vergessen.
Ein Unwetter brach über uns herein. Orkanböen schleuderten pflaumengroße Regentropfen auf uns nieder. Mir am nächsten stand die Telefonzelle, in der ich mich sofort in Sicherheit brachte. Immerhin ein geschlossenes Modell und mit einem Apparat, welches mit Bargeld funktionierte. Schon eine Seltenheit. In meiner Tasche befand sich sogar etwas Kleingeld, aber jetzt jemanden anrufen, ich würde eh niemanden verstehen können, bei dem Lärm den die Tropfen auf dem Blech und Glas verursachten. Auf jeden Fall wollte ich später bei Wolfgang melden. Ich musste hier weg, vieleicht könnte ich ihn überreden früher zu kommen. Vorerst blieb mir nichts anderes übrig, als in dieser Kabine auszuharren, zu hoffen, dass sie dem Unwetter Stand hielt. Draußen schienen schwere Teile durch die Gegend zu fliegen, viel war nicht zu sehen, die Scheiben waren stark beschlagen und das Gehäuse rüttelte mächtig. Jetzt hätte ich gerne ein Bier dabei gehabt, konnte ich das wissen. Rauchen, wenigstens bekam ich eine halbwegs vernünftige Zigarette hin. Vor Aufregung paffte ich sie dermaßen schnell durch und der Raum war jetzt völlig vernebelt. Mit der Geräuschkulisse hatte ich eher das Gefühl eines Blindfluges. Spielball der Elemente und kein Platz für eine Notlandung zu sehen. Und dann der Aufprall. Der war wirklich. Etwas sehr Großes musste gegen die Zelle gekracht sein. Ein Geräusch, schlimmer als ein Autounfall. Die Türscheibe splitterte, brach aber nicht heraus und ich pisste mir vor Angst in die Hose. Die ganze Kabine brach vom Fundament ab und schien in einem Gewirr aus Ästen eingekeilt zu sein. Ich musste mich festhalten, ansonsten wäre ich gegen die Wand geprallt. Plötzlich kam alles in Bewegung, ich spürte eine Rotation ein schleifenden Ton unter mir. Ich wurde abgeschwemmt. Raus hier! So sehr ich mich auch gegen die Tür stemmte, ich bekam sie nicht auf. Sie musste verkeilt sein. Das Brausen wurde immer stärker, die Bewegung immer schneller und es ging abwärts. Die ganze Konstruktion rauschte Richtung Meer. Ich wurde mehrmals in der Kabine hin und her geschleudert, konnte mich nur mit Mühe halten. Schwer in dieser Schrägsituation. Das Tosen nahm zu und dann stießen zwei Elemente aufeinander und ich mit dem Rücken gegen den Telefonapparat und darauf mit dem Kopf gegen die Wand. Ich verlor das Bewusstsein.
Schwingendes Auf und Ab. Fader Geschmack im Mund. Schmerzen in der Schulter. Mir war kalt und dann öffnete ich die Augen. Orientierungslosigkeit. Ich stand, nein, ich lag leicht schräg in einer ramponierten Telefonzelle. Draußen war es einigermaßen hell. Die Erinnerung kam langsam zurück. Der Regen hatte aufgehört und ein zarter Sonnenstrahl brach durch eine aufgewühlte Wolkenlandschaft. Es schien später Nachmittag zu sein. Die Scheiben waren nicht mehr beschlagen und ich sah das ganze Ausmaß des Desasters. Ein Baum musste gestürzt sein und hatte sich um die Zelle gekeilt. Die Tür war versperrt und ich schwamm weit ab vom Strand. Für die Ostsee gab es eine verdammt starke Wellenbewegung. Nur ganz auf dem Kamm konnte ich das Land erahnen. Nicht weit von mir sah ich noch jemand im Wasser. Ein beleibter Mann krallte sich an eine Kiste, sie sah aus wie ein Cajon. Ich rief, ich winkte, aber hinter der nächsten Welle war er schon wieder verschwunden. Zweimal erblickte ich ihn wieder, dann war er weg.
Wo waren die Rettungsboote, Hubschrauber, es müsste doch eine groß angelegte Suchaktion geben. Bald würde es dunkel werden und mein Schicksal wäre es eine ganze Nacht hier gefangen zu sein. Die Zelle hing bestimmt dreißig Zentimeter im Wasser, meine Füße durchgeweicht und ausgekühlt; ich würde erfrieren. Panik erfasste mich. Ich musste hier raus. Unter Schmerzen, meine Schulter war doch mehr verletzt, als ich dachte, versuchte ich die zersplitterte Scheibe herauszudrücken. Ich ruckelte, ich stemmte mich dagegen, als plötzlich die Kabine ein Stück absank. Ich erstarrte augenblicklich. Jede weitere Bewegung und die Zelle könnte tiefer rutschen. Sollte dies mein Sarg sein. Nein, ich musste schnell sein. Scheibe herausbrechen und sofort am Geäst festhalten und mich aus der Gefahr ziehen. Ein weiterer Versuch mit dem Ellenbogen. Die Scheibe gab leicht nach, die Kabine allerdings auch. Ich stand bereits bis zu den Oberschenkeln im Wasser. Ich traute mir keinen weiteren Versuch zu. Still verharrte ich in meinem Gefängnis. Draußen die wogende See, hier drinnen die Verzweiflung.
Ein Sarg aus Glas, wie bei Schneewittchen, nur unten auf dem Meeresboden. Ich hatte mal gelesen, dass man an der Farbe des Meerwassers die Tiefe der See erkennen kann, aber was nützte mir das schon, läge ich in zehn oder in vierzig Meter Tiefe, ich wäre so oder so tot. Eingeschlossen in einer Telefonzelle, wie makaber. Ich fürchtete mich vor dem nassen Tod. Ich wollte leben.
Ich weiß noch, als ich das letzte Mal an Gott gedacht hatte. Ich hatte ihn verflucht, weil er meine Liebste zu sich geholt hatte. Ich kann mich noch genau erinnern, wie sie zu mir sagte, sie hätte eine göttliche Erscheinung gehabt, ich dachte eher sie hätte zu stark am Joint gezogen. Im Morgengrauen, als ich schlief, ist sie dann auf einen Hochspannungsmast geklettert und runtergesprungen.
Mir kamen die Tränen. Sollte ich jetzt zu ihr gehen. Wie gern würde ich sie wieder in den Arm nehmen, das warme Gefühl spüren, wenn unsere Bäuche sich berührten, ihren Duft einatmen und ganz in ihr versinken. Aber ich wollte leben, ich liebte es. Alle diese wunderbaren Welten, im Großen, wie im Kleinen, die es hervorbrachte. Ich war noch nicht bereit. Ich fasste in meine Hosentasche, spürte das Kleingeld. Ich könnte Gott anrufen, ihn bitten mir zu verzeihen. Welche Nummer? Dieser Apparat würde doch eh nicht mehr funktionieren, abgerissen von seiner Bestimmung. Ich steckte das Geld in den Schlitz und griff mir den Hörer. Das Licht in der Kabine sprang an und ich vernahm ein Freizeichen. Ohne zu überlegen wählte ich. Ich gab Elkes alte Telefonnummer ein. Die Nummer wurde angewählt, wie konnte das sein, ihr Anschluss war seit Monaten gekündigt. Ein Knacken in der Leitung und plötzlich sprang ihr Anrufbeantworter an. Seit Monaten hatte ich ihre Stimme nicht mehr gehört, die Tränen flossen mir in Strömen. Dann das Signal für meine Nachricht.
Ich stammelte, ich schluchzte:” Elke, wo bist du, hilf mir, ich liebe dich.”
Eine große Welle brach gegen gegen die Zelle und die Verbindung ab. Die Kabine kam ins Rutschen, immer mehr Wasser drang ein. An meine Eier, meinen Bauch, meinen Hals, gleich war es vorbei. Die dunkle Tiefe empfing mich.
Immer tiefer sank ich, bis ein warmer Lichtstrahl mich anzog und schwerelos leitete. Ein Ton drang an meine Ohren, sphärisch und doch bekannt, lauter und lauter werdend – nervend.
Ich wache auf, es klingelt an meiner Haustür. Benommen krieche ich aus meinem Bett, stolpere auf dem Weg zum Fenster über meine gepackte Reisetasche und ziehe den Vorhang auf. Wolfgang steht unten, er kommt mich abholen. Ich winke ihm zu, drehe mich um, alle meine Sachen liegen fertig gepackt im Raum. Auf dem Tisch steht ein Strauss Rosen, die ich mir vor ein paar Tagen gegönnt habe. Ich scheide zwei Blüten ab und lege sie unter die Schutzengelfigur auf die Fensterbank. Dann öffne ich das Fenster und rufe:
“Ich komme.”